Page 24 - Taxikurier August und September 2025
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RECHTSPRECHUNG


            ➔ URTEILE



           Schulterblick statt Rückfahrkamera                 Hälftige Haftungsverteilung bei Auffahrunfall
                                                              nach Spurwechsel

           Beim Rückwärtsfahren darf man sich nicht allein auf die
           Rückfahrkamera verlassen                           Unfallbeteiligte haften je zur Hälfte bei unmittelbarem
                                                              Zusammenhang der Kollision des auffahrenden Fahrzeugs mit
             Wer mit seinem Fahrzeug rückwärts fährt, muss auf andere   einem abgebrochenen Spurwechsel des vorausfahrenden
               Verkehrsteilnehmer ganz besonders achten. Auf die Rückfahr-  Fahrzeugs
             kamera darf man sich nicht verlassen. Dies geht aus einem
               Urteil des Landgerichts Lübeck hervor.           Der grundsätzlich gegen den Auffahrenden sprechende An-
                                                                scheinsbeweis ist entkräftet, wenn das vorausfahrende Fahr-
           Auf dem Parkplatz eines Supermarktes ist viel los. Ein Mann steu-  zeug im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang
           ert sein Auto geradeaus in Richtung Ausfahrt. Vor ihm parkt ein   mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstrei-
           anderer Fahrer rückwärts aus und schaut dabei auf die Rückfahr-  fenwechsel unvermittelt abbricht, wieder vor dem auffahrenden
           kamera. Es kommt zum Zusammenstoß. Der Geradeausfahrende   Fahrzeug einschert und dort sein Fahrzeug zum Stillstand ab-
             beschuldigt den Rückwärtsfahrenden, plötzlich ausgeparkt und    bremst. In dieser Situation ist eine Haftungsverteilung von
           den Zusammenstoß verursacht zu haben. Der Rückwärtsfahrende   50 % zu 50 % gerechtfertigt, entschied das Oberlandesgericht
           entgegnet, der Geradeausfahrende sei einfach weitergefahren und   Frankfurt am Main (OLG).
           an seinem Fahrzeug entlanggeschrammt. Der Geradeausfahrende
           habe gar nicht bremsen wollen und den Unfall bewusst provoziert.  Der Fahrer eines bei der Klägerin versicherten Ford Ranger befuhr
                                                              im Sommer 2021 zunächst den linken von drei Fahrspuren der
           Das Gericht musste entscheiden, wer den Schaden bezahlen muss   BAB 45. Aufgrund einer Baustelle verengte sich die Fahrbahn auf
           und wie viel. Es hat mehrere Zeugen befragt und einen techni-  zwei Fahrspuren. Der Fahrer begann, auf den mittleren Streifen zu
           schen Experten (sogenannten Sachverständigen) hinzugezogen.  wechseln. Wegen des dortigen Verkehrsaufkommens fuhr er, nach-
                                                              dem er ca. zur Hälfte auf der mittleren Fahrspur angelangt war,
           Ergebnis: Beide Fahrer treffe eine Schuld.         ebenso wie das vorausfahrende Fahrzeug wieder auf die linke Spur.
                                                              Auf der linken Spur bremste das vorausfahrende Fahrzeug bis zum
           Der Geradeausfahrende habe einen Fehler gemacht. Er sei etwa    Stillstand ab. Der Fahrer des Ford bremste ebenfalls für maximal
           15 km ⁄ h schnell gefahren. Auf einem Parkplatz müsse man aber   1 Sekunde bis zum Stillstand ab. Der hinter dem Ford auf der lin-
           sofort bremsen können. Man dürfe daher nur Schrittgeschwindig-  ken Spur befindliche Beklagte kollidierte mit dem klägerischen
           keit fahren. Aber auch der Ausparkende habe sich nicht richtig   Fahrzeug. Der Schaden am klägerischen Fahrzeug beläuft sich auf
           verhalten. Er habe nicht die ganze Zeit über die Schulter nach   knapp 60.000 Euro.
             hinten geschaut. Beim Rückwärtsfahren müsse man durchgängig
           sicherstellen, dass man niemanden gefährdet. Das Anschauen der   Das Landgericht hatte der Klage auf Basis einer Haftung von
           Rückfahrkamera reiche dafür nicht aus. Den Rückwärtsfahrenden   80 % stattgegeben. Die hiergegen eingelegte Berufung führte zu
           treffe die größere Schuld. Er muss jetzt 2 ⁄ 3 des Schadens bezah-  einer Haftungsquote des Beklagten von 50 %.
           len. Die Entscheidung ist rechtskräftig.
                                                              OLG: Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden
           (Landgericht Lübeck, Urteil 19.07.2023)            greift hier nicht
                                                              Der grundsätzlich gegen den Auffahrenden geltende Anscheins-
                                                              beweis greife vorliegend nicht ein, begründete der zuständige
                                                              9. Zivilsenat die Entscheidung. Sowohl die unklare Verkehrslage als
                                                              auch der atypische Geschehensablauf stünden dem Anscheinsbe-
                                                              weis entgegen. Zudem spreche gegen den Anscheinsbeweis, dass
                                                              der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs im unmittelbaren zeitlichen
                                                              und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur
                                                              Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abgebrochen
                                                              habe. Der Fahrer des Ford habe selbst bekundet, das Beklagten-
                                                              fahrzeug auf der linken Spur nicht gesehen zu haben. Dies spreche
                                                              dagegen, dass er sich vor dem von der Klägerin als „Schlenker“ be-
                                                              zeichneten Manöver durch Rückschau über den rückwärtigen Ver-






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